Aphorismen des eigenen Vaters: Moritz Eggerts „Lasst uns ungereimt sein“ wird in Kempten uraufgeführt
Akeo Hasegawa (Tenor) und Jone Punyte (Klavier) bringen am 14. Dezember 2007 am Stadttheater Kempten das neue Werk von Moritz Eggert „Lasst uns ungereimt sein“. 30 Aphorismen für Singstimme und Klavier zur Uraufführung.
Der Komponist über sein Werk:
„Aus bisher unveröffentlichten Texten meines Vaters, des Schriftstellers Herbert Heckmann, habe ich eine Auswahl von 30 kurzen Texten zusammengestellt, größtenteils Aphorismen, Beobachtungen, Gedanken. Trotz der extremen Kürze der einzelnen Nummern handelt es sich eigentlich um einen ausgewachsenen Liederzyklus.
Aphorismen gelten als schwer bis unmöglich vertonbar, Klaus v. Welser schrieb einmal, eine Vertonung müsste wie eine „kleine Explosion“ sein, und wäre nicht wirklich vorstellbar. Dennoch hat es mich gereizt, genau dies zu versuchen, auf der Suche nach größtmöglicher Verdichtung und Knappheit, nach einer neuen Präzision in der Gattung des Klavierliedes.“
Lasst uns ungereimt sein (2007)
30 Aphorismen meines Vaters
für hohe Stimme und Klavier
Musik: Moritz Eggert
Text: Herbert Heckmann (1930-1999)
1 REDEN 1
Reden, wie einem der Schnabel verwachsen ist.
2 SCHREIBEN 1
An warmen Tagen riecht mein Schreibtisch nach Harz,
und es schmerzt mich, so weit weg zu sein.
3 PORTRÄT 1
Er spricht vollmundig,
mit Mikrophon vollmundiger.
hinter dem Vortragspult
wippt er im Takt seiner Sätze.
Ein Korken auf dem Meer
der Beredsamkeit. Er selbst
hat nichts zu sagen –
4 SCHREIBEN 2
Woran er arbeite,
fragte ich.
Er schien auf die
Frage gewartet zu
haben und redete drei
Stunden über sich.
5 REDEN 2
G-Dur ist mir am liebsten.
6 SCHREIBEN 3
Er veröffentlicht jedes Jahr einen neuen Gedichtband,
nur um zu beweisen, dass er nichts zu sagen hat.
7 DENKEN 1
Dass wir so sind, wie wir sind,
ist das Schrecklichste, an das
wir uns nur zu schnell gewöhnen.
8 DENKEN 2
Was sind wir?
Eine Frage,
die wir nicht stellen.
9 PORTRÄT 2
Von vielen Hymnen
war sein Gesicht
schon vor seinem
Tod
ein Nachruf
auf sich selbst:
Der Blick ins
Leere,
die Backen ge-
bläht:
Viel Luft,
ein Ballon der
Wichtigkeit,
der einfach nicht
abheben will.
10 DENKEN 3
In der Nacht ist mir ein Satz
eingefallen,
und jetzt suche ich ihn den
ganzen Tag.
11 IDYLLE
Klavierübungen-
und jedes Mal das
Zögern bei schwierigen Passagen.
Aus einem aufgeschlagenen Buch
auf dem Tisch
locken Wörter.
Manchmal schiebt
der Wind den Vorhang zur Seite.
Draußen ist eine andere Welt.
12 DENKEN 4
Die Uhren wissen nichts von der Zeit,
die sie anzeigen.
Sie führen nur den mechanischen Auftrag
der Menschen aus, die ihre Geduld nicht
zügeln können, um ans Ende zu gelangen.
13 SCHWEIGEN 1
Nein, nein und nochmals nein.
Ich weigere mich mitzusingen.
Männerchöre haben etwas
Mörderisches.
14 SCHREIBEN 4
Sie redeten, redeten, redeten
darüber, wie schwer es sei,
zu schreiben!
15 DENKEN 5
Gestern
war ich verzweifelt
bis ins Mark.
Heute pfeife ich
ein Liedchen vor
mich hin.
Ich werde der Nacht
ein Opfer bringen.
16 DENKEN 6
Diese Angst, einmal nichts zu haben
als einen kurzen Anlauf,
um über meinen eigenen Schatten
zu springen.
17 PORTRÄT 3
(Fassnacht 1939)
Ich war Sitting Bull
und trug die Federn
eines armseligen Huhns
gegen die Bleichgesichter.
Wir spielten das Sterben.
Hinterher schrie ich auf,
als meine Mutter mich
mit der Wurzelbürste
in mich zurückverwandelte,
der ich nicht mehr derselbe war.
18 EXPEDITION
Nachts liege ich weitäugig und ohne Schlaf
und rastlos wandert mein Geist bis zum
Morgengrauen. Mauern stehen auf, an denen
sich meine Gedanken mürbe stoßen, und Öd-
felder breiten sich aus ohne verräterische
Spur und Stolpersteine überall. Mit der Hand
streiche ich über die Bettdecke, um mich zu
vergewissern, wo ich tatsächlich bin, aber
es ist kein Trost. Die Unruhe jagt mich durch
die Augenblicke, bis der Morgen bleihell in
meinen Gliedern erwacht, bis ich den Boden
mit den Zehen prüfe.
19 SCHREIBEN 5
Der Triumph der Hebammen
Auf dem Schutzumschlag des Buches
war die Fotografie eines Mannes
zu sehen, der sehr ernst drein-
blickte.
Er hatte die Gedichte ausgewählt,
die in dem Band versammelt waren.
Ich konnte seinen melancholischen
Blick nicht vergessen, als ich
die Seiten durchblätterte.
Die Gedichte schmeckten nach Korken.
20 PORTRÄT 4
(Mädchen mit Hut)
Als sie die Grübchen
in ihrem Gesicht entdeckte,
war sie nur noch Grübchen,
und der Schatten ihres Hutes
änderte nichts daran.
Ihr fester Schritt
zog die Männer hinter sich her.
Sie war jedoch nur schön
für die Sonne
und für die paar Schwalben,
die die Dächer mit ihren
Flügeln streichelten.
21 PORTRÄT 5
L’homme machine.
Ein Goldkettechen um den den Hals.
Haare auf der Brust, und
die auswendig gelernte Sehnsucht
In den Augen. Er weiß, dass es
jetzt in Kenia schöner ist. Er
hat den Blick für die nahe liegende
Ferne. Er ist immer woanders.
Sich selbst gehört er nur im Traum,
wenn die Kameras nicht schnurren.
22 SCHWEIGEN 2
Seine aufdringliche Art,
nichts zu sagen.
sein Schweigen prägte
sich ein.
23 SCHREIBEN 6
Gesinnung aufs Papier
Papiergesinnung.
All die Tintenleidenschaften
zerblättern bald.
Laß es!
Ein Gedicht ist kein Schatten
Nie gemachter Erfahrungen.
Es ist eine Katze,
die Vögel fängt.
24 PORTRÄT 6
Sie ließ sich von Tenören verwirren
und dachte, sehr weit zu reisen,
aber nach langen Überlegungen fand sie:
es war ihr Mann, der Rechnungen beglich.
(…)
25 SCHREIBEN 7
Er denke nicht an sein Publikum,
wenn er schriebe.
Aber gerade das liebt das Publikum.
26 DENKEN 7
Was nicht schön ist,
erkennen wir sofort,
was aber schön ist,
würde uns erschrecken.
27 SCHWEIGEN 3
Im Schweigen sei auch
das Schweigen Schweigen.
28 PORTRÄT 7
Mein Vater.
Am Ende zählte er nur noch seine Tage
wie einen kostbaren Besitz.
„Nur wer die Welt liebt, kann sie würdig
verlassen.“ (sagte er.)
29 AMSELN
Aus dem Nachtgrau
Schlagen die Amseln
Den Tag an.
30 DENKEN 8
Lasst uns ungereimt sein.
(Anmerkung: Betitelung und Auswahl aus unveröffentlichten Texten von Herbert Heckmann durch Moritz Eggert)